Passant 1: »Siehst du den Mann da oben, zwischen den Türmen, mit seiner Stange, auf seinem Seil?«
Passant 2: »Oh. Ja. Der kleine Punkt da oben, zwischen den Türmen, auf dem gespannten Seil. Fuß setzt er vorsichtig vor Fuß. Der hat bestimmt lange üben müssen, um in dieser Höhe zu turnen.«
Passant 3: »Von da oben aus besehen, verlieren wir uns hier unten sicherlich in den Straßen. Kleine undefinierte Punkte, Ameisen, die durcheinanderlaufen. Viele von uns und nur einer wie er.«
Passant 2: »Alles oder Nichts, scheint er mir zu sagen. Nichts als eine Querstange, ein Seil, an dem er sich festtanzen kann. Ausblick aus göttlicher Ferne, den Wolken nah und dem Himmel.«
Passant 4: »Kein Netz, kein doppelter Boden. Bei jedem Schritt vom Absturz bedroht. Ein falscher, neben das Seil, und es ist aus. Denn dann siegt die Schwerkraft und selbst der gewandteste Menschenkörper muss fallen.«
Passant 5: »Wir, die Aufschauenden, das Publikum, halten den Atem an. Wir werden erschrocken stocken. Wir werden zusehen, schreien.«
Band 6 dokumentiert die Zusammenarbeit des Berliner Komponisten Thomas Gerwin, der zu den Texten von Lots Weib begleitende Musik geschrieben hat – als Audiokomponente zum Buch. Thomas Gerwin ist einer der ausgewiesendsten deutschen Komponisten für Neue Musik, der in seinem Berliner Studio inter art project instrumentale und elektroakkustische Musik für Konzert und Performance kreiert.
Man on wire
Man on Wire
1
Der erste
Schritt
auf das Seil
ist der schwerste:
Tanz zwischen Türmen,
Schritt für Schritt:
Der Tod tanzt mit.
Kein Signal
verabredet für:
Bin nicht bereit,
über
die Wolke zu wandeln.
Alles muss Pfiff haben,
noch in der Schwebe:
Unmöglich, unmöglich,
unmöglich,
nichts ist unmöglich,
nur möglich ist
möglich.
Das Haltlose:
Ich greife es an
und
halte mich fest.
Schwindelfreie Blicke
nach unten,
der Abgrund,
die Tiefe,
Ufer und Insel,
Hund, Münze und Boot.
Fährmann, Fähre,
über den Hudson,
halt an.
Nimm mich dran:
Fährmann,
dass ich mich mit dir
verabreden kann.
Schaulust, Jubelschreie, Bestürzung,
Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht,
Passanten im Kraftschwerelot,
auf dem Kanapée,
dem Trottoir,
in der Fussgängerpassage,
dem ampel-gesicherten Alltag,
im
Gewohnheitstrott,
Hier-und-Jetzt,
blicken auf,
schauen zu,
wie
um zu sagen:
Lasst uns ihn sehen,
gehen,
lasst uns ihn
stürzen
sehen.
2
FrüheTräume,
tägliches Training,
auf einer Wiese,
Handstand, Überschlag:
Körper ringt sich
links rechts links
Arme, Waden, Zehen,
Gehör-Gang-Gleich-Gewichte aus,
bildet sich so
eine Mitte,
mein Zentrum:
In mir,
nur in mir
kann ich mich festhalten,
fest.
Muss
meine Kiste vernageln,
bevor ich
aufs Seil geh.
Vernagelte Kiste,
mein Alptraum,
mein Sarg,
mein Wunschraum,
Goldrahmen für
meinen Wunschtraum:
über das Seil gehen.
Vernagelte Kiste.
Strang, Bogen, Schuhe,
Stange und Helm:
Verpackt ist das alles.
Ein
stürzen und fallen
kann alles, wird
fallen.
Fallen wird alles,
fallen
alle
werden fallen,
alle,
fallen,
die nichts
von den Geistern
der Höhe
verstehen,
alle,
die sie nicht sehen.
3
So
tanze ich,
tanze
auf einem Seil:
Ich, Petit,
der Kleine, der Winzling,
ein Possenreisser
unter den Weisen, ein
Gleichgewicht ausfedernder Ball.
Seil, sei:
Der Mensch, gespannt
zwischen Tier und Gespinst.
Sei:
Ein gefährliches
Hinüber,
ein Schaudern und Zögern,
wenn er zurückblickt,
der Mensch.
Brücke sei er,
kein Zweck: Übergang
und Untergang
sind eins
in meiner
Verbeugung
vor den Dimensionen
des überwindbaren Raumes,
den Verführungen aus
Tiefe und Lust.
4
Im Umgang
mit Luft
die Verabredung:
Pfeil
sei ich,
Sehne und Bogen.
So
geh ich hinüber,
wieder
und wieder,
hinüber,
die Leere jetzt spürbar,
unter den Fersen,
Versuchung, Laster, Lasten, Last:
In die Schwebe
gehalten
halt ich mich
aufrecht,
Schwindel-Ich.
Nur so
hält Welt
mich auf
und aus.
In der edition eY Nr. 6
Doppel CD im Schuber
ISBN: 978-3-00-053687-8
36 Euro zzgl. Versand