Interview, das der Linzer Dramaturg und Autor Franz Huber (F.H.) mit Wolfgang Heyder (W.H.) am 8.11.2022 in München über diese beiden Erzählungen geführt hat.

F.H.: Welches Verhältnis hast du zum Krieg, etwa zum Syrienkrieg?

W.H.: Ich hatte das ganz unbedingte Gefühl, als ich die geschilderten Ereignisse in Syrien (ab 2011) über die Medien mitansehen musste, dass es nicht geht, dass wir in Deutschland so tun, als ginge uns das alles nichts an. Es kam mir so vor, als wenn wir uns hinter unsere Butzenscheiben verkriechen, wahrend die Welt den Atem anhält. Ich glaube im übrigen, dass meine Generation, keine zehn Jahre nach dem 2. Weltkrieg geboren, ich 1954, durchaus ein Verhältnis, wenn auch ein indirektes und kompliziertes, zum Krieg hat. Von Jugend auf hat uns die Frage an die Vater und Großvater bewegt: Was ist geschehen? Was habt ihr getan? Wie war das genau, was ihr da erlebt habt, wie lasst sich das verantworten? Es war nicht leicht, diese Fragen angemessen zu stellen. Es war für die Vater und Großvater nicht leicht, uns angemessene Antworten zu geben. Ich habe da noch sehr persönliche Gespräche in Erinnerung, die von einem grundlegenden Nichtverstehen geprägt waren. Zum Gluck ist dies in meinem Falle nicht so geblieben. Ich glaube selbst meine Generation hat verinnerlicht, dass wir in diesem Leben nicht aus dem Schatten Hitlers und des Nationalsozialismus heraustreten können. Das, was damals geschehen ist, legt auch heute noch den Verantwortungsraum fest, in dem wir stehen.
Was das allerdings in der Konsequenz genau bedeutet, welche konkreten Handlungsoptionen daraus folgen, muss jeweils neu überdacht und ausgehandelt werden, wie wir an den Diskussionen zum Beispiel um Waffenlieferungen an die Ukraine sehen können. An meine Generation wurden traumatisierende, traumatische Ereignisse weitergereicht, an denen auch wir noch unser Bild von der Geschichte und einer möglichen Zukunft ausrichten müssen. Wenn man so will, war der Krieg für uns, durch zahlreiche Recherchen, verstörende Einsichten an Originalschauplätzen, etwa in Konzentrationslagern und bisweilen besessener Lektüre hindurch verfolgt, ein »literarisches Projekt«, wenn das besagt, dass wir versucht haben, etwas von dem zu begreifen und zu beurteilen, was wir zum Gluck nicht selbst erleben mussten.

1

Iphigenie in Aulis

 

Mein Vater hat mich geopfert.
Mein Vater hat mich geopfert, um Krieg
führen zu können.

Ohne mein Opfer wäre seine Flotte
liegen geblieben im Hafen.
Kein Wind hätte die Segel gebauscht,
kein Panzer die Ebenen durchpflügt,
kein Flugzeug sich in die Lüfte erhoben.

Weil ich seine Lügen nicht durchschaut habe,
müssen andere leiden. Eine Braut sollte ich sein,
weiß gekleidet, Blumen im Haar.

Der Krieg wurde möglich, weil es mich gab.
Weil es möglich war, mich zu opfern.
Selbst gegen den Willen der Mutter.

Nur weil ich verblutet bin über dem Grab,
in dem mein Körper jetzt liegt, konnten sie
segeln, segeln und töten, kämpfen und siegen,
die Krieger, über ein fremdes Land.

Nur weil ich schwach war, mich zu wehren nicht wusste,
gegen den Willen des eigenen Vaters, des Henkers
am eigenen Kinde, ist all dies geschehen.

Schuld und Verantwortung
nehme ich auf mich, weil ich verblutet bin,
unter seinem geschliffenen Messer.

2

Iphigenie, Kollateralschaden

»Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.«
Platon

Vitali Klitschko,
der Bürgermeister von Kiew, wertet,
der große Diktator in Moskau
habe der UN seinen Stinkefinger gezeigt –

Der hatte António Guterres,
dem Generalsekretär der UN, eine Rakete
nach Kiew nachgeschickt, nachdem dieser
am Tag zuvor am langen Kremltisch des Diktators
zum Dialog Platz genommen hatte.

Eine Drohne der Verachtung, zerstört sie
ein Wohnhaus, reißt ganze Etagen heraus,
zermalmt Wände, Decken, Schreibtische,
Sessel und Betten.

Gegoogelt der Name des Opfers, das nicht
anonym bleiben darf. Aus den Trümmern
getragen in einem schwarzen Plastiksack:

Wira Hyrytsch, Journalistin in Kiew,
sie, die dort wohnte, nachdachte und schrieb
Kommentare, Kolumnen: ein digitales Orakel,
Menetekel und Mahnung, über radio free europe/
radio liberty an die Welt.

Gefunden verschüttet, tot unter den Trümmern,
ein weiteres Opfer, Symbol, Kollateralschaden,
eine heutige Iphigenie – getötete Priesterin
der Pressefreiheit.

3

Iphigenie auf der Krim

Sie steht vor dem Kriegshafen
von Sewastopol, wieder und wieder,
hält ein leeres weißes Blatt in die Luft
und wartet darauf, abgeführt zu werden.

Mehrfach verhaftet, verurteilt, eingesperrt,
hat sie beschlossen, nicht aufzugeben.
Trotzig hebt sie ihr Schild in die Luft.
Jeder weiß, was die weiße Leere bedeutet,
beim ersten Mal standen da Buchstaben, lesbar,
Worte in kyrillischer Schrift.

Thoas, dem Diktator, hat sie einen Brief
geschrieben. Sie wartet auf Antwort, die
nicht kommt. Sie will mit ihm reden, will, dass er
ihr zuhört, an seinem langen Tisch, ein einsamer,
wortreich sinnierender Machtmensch.

Sie hofft, dass noch ein Gott wohnt in ihm, eine
Kindheit, ein Nachbar und Freund, dass er begreift,
dass es der Menschenopfer nicht mehr bedarf,
kein Brudervolk keine Schwester mehr sterben muss
für welche Idee, auf welchem Altar immer.

Sie gibt die Hoffnung nicht auf. Trotzig hebt sie
ihr Schild, Anklage, Rechtfertigung, Verteidigung,
Protest, Lebensbegründung und Sinn in einem – dieses
buchstabenlose, weiße, in die Luft gereckte Blatt.

4

Iphigenie in Delphi

»Wie hallen hier furchtbar die Felsen!«
Elektra in Gerhart Hauptmann: Iphigenie in Delphi

Wir schauen nicht mehr zu den Göttern auf –
Schauen wir noch zu den Göttern auf? –
fragt Pylades und bekennt: Es geht ums nackte
Überleben. Blutbefleckt sind die Geschwister.
Iphigenie, geopfert, entführt von der Göttin,
in einer Wolke, nun Priesterin, steht am Opferaltar,
segnet die, die sterben müssen unter scharfem Messer.
Orest muss den Muttermord sühnen, findet Zuflucht im
Tempel der Artemis, erkennt die allem entrückte
Schwester, führt das heilige Bildnis heim ins Orakel.
Auch Elektra ist schuldig geworden. Sie half dem Bruder,
seinen Mord zu morden. Zugesehen hat sie. Schuld
gestehen, Schuld verstehen, Schuld vergeben. Schuld. Bis
ins dritte, bis ins vierte Glied. Wer, was durchbricht
die Schuld, die von Schuld kommt, Taten der Ahne
fernher, ungesühnte Morde, wieder und wieder
wiederholt, fehlbar das eigene Gewissen, der Kreislauf
von Gewalt und immer nur wieder Gewalt? Es bedarf
doch der Opfer nicht mehr – Worte klären, erklären, zeugen,
überzeugen, ziehen aus, die Fluten des Stromes zu teilen,
Erstgeborene, Lämmer, Söhne und Töchter – noch immer
verenden sie, in ihrem Blut.

Es sind die Fürchterlichen, Nänie und Mänaden –
Anonym Getötete, es sind die Namenlosen, die die Zukunft quälen.

(Wolfgang Heyder, Mai 2022)

Eine Anmerkung:
Forscher belehren uns, dass der Ort, der bei Euripides und Goethe noch »Tauris« hieß (und nach dem das »Taurische Palais« in St. Petersburg benannt ist), heute »Krim« oder »Halbinsel Krim« genannt wird.

 

»Recherchen um Tauris« ist ein Beibuch, in dem ein Interview abgedruckt ist, das der Linzer Dramaturg Franz Huber mit dem Autor zweier Erzählungen »Penthesiela Moabit« und «Sewastopol« Wolfgang Heyder geführt hat, in dem dieser zu begründen versucht wie er diese Erzählungen angelegt und ausgeführt hat. 

»Penthesiela Moabit« / »Sewastopol« ist in der PalmArtPress in Berlin erschienen. Es kann für 25 Euro in der PalmArtPress, Pfalzburgerstr. 69, 10719 Berlin, www.palmartpress.com oder über die edition eY angefragt und bestellt werden.

In der edition eY Nr. 14

 

ISBN 978-3-9818750-7-2

Preis 18 € zzgl. Versand

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